Ö1 Diagonal, 8. Oktober 2003
Blicke ich aus dem Fenster meiner kleinen Wohnung im zwölften Stock, sehe ich gerade vor mir eine Fabrik, umgeben von Betonklötzen und tiefhängenden Wolken. Hinten rechts Fragmente eines Gebäudes; ob es im Aufbau ist oder im Verfall, kann ich nicht wirklich erkennen. Sicherlich bin ich hier in einem dieser vielen stalinistischen Wohnsilos am Stadtrand gelandet.
Es braucht Tage, bis ich verstehe, dass ich mitten im Zentrum lebe, in einem der guten, privilegierten Wohnviertel. Immerhin befindet sich nicht weit von hier die Hauptstraße von Tomsk: der Prospekt Lenina, der sich wie mit einem Lineal gezeichnet durch die halbe Stadt zieht.
Dem verregneten Herbst folgt unvermittelt ein harter Winter. Die Nächte werden lang, die Tage dafür heller und freundlicher: sauberer Schnee bedeckt den dunkelgrauen Matsch und die Müllberge der Straßen, beleuchtet von strahlender Sonne, die mein Fensterthermometer warme plus drei anzeigen und die Eisrosen schmelzen lässt.
In romantischer Stimmung verlässt man die Wohnung, ernüchtert betritt man die Straße – minus 37. Nach dem ersten Atemzug spüre ich einen harten Eisklumpen in der Nase, den ich aber sofort vergesse: denn ab jetzt muss ich mich auf’s Gehen konzentrieren. Wege werden hier nicht gestreut und gleichen Eislaufbahnen. Ich krame nach Schuhketten, die ich in einem Wiener Spezialgeschäft für Hochgebirgswandern erworben habe, um sie an meine schweren Stiefeln zu montieren – zum großen Erstaunen der Passantin, die leichtfüßig in hochhakigen Stiefletten vorbeitrippelt.
Man muss als Europäer schnell Gewohnheiten aufgeben, wie etwa das Suchen von Fußgängerampeln oder Zebrastreifen, um vielbefahrene, breite Straßen zu überqueren. Es bleibt einem nichts anderes übrig, als all seinen Mut zusammenzunehmen, um zwischen den heranrasenden Autos heil auf die andere Seite zu laufen, ohne dabei überfahren zu werden oder auszurutschen.
Am Weg zur Busstation komme ich an einer unscheinbaren Türe mit dem Schild Apteka vorbei. Ich bleibe stehen, fasziniert das Schriftbild aus den 60er Jahren studierend und erinnere mich daran, dass ich Jodtabletten kaufen sollte. Vera Ivanovna hat mir geraten, zwei davon täglich zu mir zu nehmen, denn seit einem Störfall im benachbarten Atomstützpunkt Marke Tschernobyl ist die Tomsker Luft strahlenbelastet.
Ich quetsche mich in die Marschrutka, wie öffentliche Kleinbusse hier genannt werden und versuche, mich unauffällig zu verhalten. Ich weiß, dass man im Bus nur das Allernotwendigste und vor allem leise redet. Dass man sich in der Öffentlichkeit auf gar keinen Fall schneuzen darf, erfahre ich leider erst nach anderthalb Jahren. Aber schon durch mein Outfit werde ich ohnehin sofort als Ausländerin identifiziert.
Durch die angefrorenen Fensterscheiben ist nichts zu sehen und ich hoffe, den richtigen Augenblick zu erfühlen, um dem Fahrer zu sagen, dass ich aussteigen will. Es gibt beschilderte und inoffizielle Busstationen, aber mit einem schüchternden „Moschno sdjes?“ kannst du den Fahrer manchmal sogar dazu bringen, dich an dem Ort abzusetzen, der möglichst günstig für dich liegt, was bei Eissturm oder minus 50 Grad eine echte Gnade sein kann.
Ich steige aus, warte auf Maxim und bestaune voller Bewunderung den eisessenden Mann neben mir. Nach einer Weile kommt eine ältere Frau, schaut mich auffordernd an und reibt demonstrativ an ihrer Nase. Das ist ein sehr ernst gemeinter Code hier und soll heißen: „Achtung, deine Nase ist schon ganz weiß – pass auf dass sie nicht einfriert!“
Die Straßen sind voll von auffällig uniform gekleideten Studenten: Männer in schwarzen Jacken und Jeans, mit riesigen Pelzmützen, die Zigarette im Mund und in der Hand ein dezentes Plastiksackerl mit den Informatik-Unterlagen. So stehen sie fein säuberlich getrennt von den Mädchengruppen, die ihrerseits damit beschäftigt sind, sich mit immer perfektem Äußeren Konkurrenz zu machen. Bevor sie in ein Gebäude kommen, oder dieses verlassen, wird erst mal die Frisur gerichtet und das Make-up geprüft. Ehrlich bewundernd stehe ich daneben und kämpfe mit meiner angefrorenen Brille und den fünf Schichten Kleidung an meinem Leib.
Maxim und ich gehen ein Stück Richtung Sportpalast, um Fellhandschuhe zu kaufen. Einmal mehr bin ich darüber erstaunt, dass ich mich mit ihm, der sein Leben mitten in der Taiga verbracht hat, ohne Probleme über die Wiener Elektronikmusik-Szene unterhalten kann. Als uns ein vorbeigehender junger Mann deutsch reden hört, spricht er uns begeistert an und will uns sofort auf ein Bier einladen. Als Ausländer ist man hier immer noch eine Rarität. Tomsk war als militärischer und atomarer Stützpunkt bis vor dem Fall der UdSSR immerhin eine geschlossene Stadt und für Fremde beinahe gänzlich unzugänglich.
Die Leninstraße ist frisch renoviert für die 400-Jahr-Feier, die in einigen Wochen begangen wird. Die Menschen hier wissen, was es heißt zu feiern: die ganze Stadt wird auf der Straße sein, bei jedem Wetter wird garantiert getanzt, gelacht, gesungen und gesoffen werden bis zum übernächsten Morgen, der natürlich zum Feiertag erklärt wird, versteht sich.
An einer Seitenstrasse beginnt das Viertel mit den alten Holzhäusern, die voll sind mit sagenhaft üppigen, filigran gearbeiteten Holzschnitzereien. Hier wird deutlich, dass Tomsk eine der ersten Städte Sibiriens war. Diese Gebäude, so sie nicht schon vermodert sind, werden heute noch bewohnt. Dazwischen Plattenbauten neben Jugendstil und postmodernen Ziegelburgen der Neureichen.
Nach Supermärkten sucht man in Tomsk beinahe vergeblich. Und wer außer im August und September nach Salat oder Grünzeug, nach Radieschen oder etwa Gurken sucht, der muss sich wohl für fünf Stunden in den Bus nach Novosibirsk setzten, um solche Extragelüste zu befriedigen. Dafür kannst du überall und bei jeder Temperatur die beliebten Sonnenblumenkerne erstehen, deren ausgespuckte Schalen allgegenwärtig sind.
Milch holt die Tomskerin auf der Straße bei einem der Milchtanks, aus denen durch Schläuche die Moloko in die mitgebrachte Flasche gefüllt wird. Der Rest wird auf Märkten erstanden. Woche für Woche entdecke ich neue Worte und Tricks, um an Dinge wie Trinkgläser, Taschentücher, Schuhbänder oder eine Klobrille zu kommen. Apropos: ich brauch noch Wodka und Schokolade. Olga hat Geburtstag und ohne Geschenk kann ich unmöglich kommen. Hinter den Ladentischen des kleinen Greißlers sitzt gelangweilt eine Verkäuferin, deren weiße Rüschenhaube es mir angetan hat.
Überhaupt diese Bilder: Ich kann nicht genug bekommen von den altsozialistisch durchgestylten Inneneinrichtungen der Bars, von den üppigen Plastikvertäfelungen and den Wänden der Bibliotheken, den sparsam zerstückelten und fein säuberlich drapierten Papierservietten in der Mensa; Kunstefeu über den Türen, Plastikblumen in halben Colaflaschen, die zu Vasen umfunktioniert wurden, offene Leitungen und Stromkabeln allüberall, Rüschenvorhänge, große Posters mit Stilleben russischer Esstafeln, Schriftzüge und Zeichen in den verspieltesten Variationen, verblichen, leicht verbeult und immer liebenswert.
Ich vergesse darüber den Riesenhaufen Kleidung, der zu Hause darauf wartet von Hand gewaschen zu werden – falls es warmes Wasser gibt; ich denke auch nicht daran, dass meine Haut gegen das Wasser hier allergisch reagiert und ich nicht einmal wirklich duschen kann; oder, dass die Klospülung nicht funktioniert. Und ich vergesse sogar die Probleme bei der Visastelle.
Ich gehe einfach Richtung Fluss und höre dem lauten Knirschen des Eisbruches zu. Übermorgen wird alles ganz plötzlich grün sein und bald wird Tomsk wieder bis Mitternacht taghell und ein einziger, dörflicher Rummelplatz sein.