Russland, 9. Mai 2001
Aus sowjetischen Lautsprechern dröhnen alte Märsche. Allerorts rüsten zahllose Veteranen zum „Tag des Sieges“. Die Brust mit dutzenden Orden und Medaillennadeln voll geheftet und roter Nelke in der Hand, ziehen Leute in langen Kolonnen durch die Lenin-Boulevards. Fahnen und Stalinbilder werden geschwenkt und Kriegsspiele inszeniert.
Währenddessen sitze ich in einer langsam dahinzuckelnden Elektritschka nach Sljudjanka, einem Ort an der Südspitze des Baikalsees. Neben mir Dörthe, eine junge Umweltaktivistin aus Deutschland, die ich gerade erst kennengelernt habe. Häufig passiert es nicht, dass zwei Europäerinnen sich in Ostsibirien treffen. Wir beschließen, einen Tag in der Natur zu verbringen.Gerade da, wo sich keinerlei Bahnhofsschild befindet, und wir nur mehr von Bäumen umgeben sind, steigen wir aus und gehen einen kleinen Weg, der kaum als solcher zu erkennen ist, Richtung See. Wir freuen uns über die Landschaft fernab jeder Zivilisation, wiewohl wir uns laut fragen, was passieren würde (oder nicht passieren würde), säßen wir hier fest. Irgendwann führt der Weg direkt in einen breiten, wild rauschenden Bach, welcher sich frühjahrsbedingt offensichtlich aus dem Schmelzwasser der gewaltigen Schneemassen gebildet hat. Uns bleibt nichts anderes übrig, als querfeldein über Sträucher und Steine weiter zu stolpern und die Zähne zusammenzubeißen, bis wir endlich den See erreichen.
Da liegt er vor uns, der Baikal, gewaltig und bedeckt mit einer dicken, weißen Eisschicht; dahinter hohe Berge. Er passt genau zwischen München und Hannover. „Das Meer“, wird er hier von den Einheimischen genannt. Ich hatte immer das Gefühl, es wird eher von einem geheimnisvollen Wesen gesprochen, als von angesammeltem Wasser. Linker Hand sehen wir ein paar halbverfallene, scheinbar unbewohnte Holzhäuser. Wir gehen Richtung Süden entlang der Schienen, auf denen früher die Transsibirische Eisenbahn gefahren ist, bis wir in einem Dorf ankommen, von dem aus uns ein Bus in die nächst größere Stadt bringt. Dort erstaunen wir einige Leute, als wir sie nach einem Hotel fragen und werden in die verschiedensten Himmelsrichtungen geschickt. Hundemüde finden wir uns auf einer Art Hauptplatz wieder.
Exakt auf der gegenüberliegenden Seite dieses menschenleeren Platzes stehen, ebenso ratlos suchend, zwei junge Wanderer mit riesigen Rucksäcken. Wie ferngesteuert gehen wir geradewegs auf sie zu und hoffen auf Beistand. Der eine sieht mit seiner Schirmkappe, Bergtechnojacke und Spiegelbrille aus wie der angesagte DJ aus London; beim anderen fällt sofort die enorme Größe von bestimmt fast zwei Metern auf. Wir tippen sofort auf Touris, staunen aber nicht schlecht, als wir erfahren, dass es sich um waschechte Sibirjaken handelt. Etwa 25 Sekunden später sind wir eingeladen, in einer Datscha unweit der Stadt zu übernachten. Ohne zu zögern oder Dörthes zweifelnde Blicke zu beachten sage ich zu.
Während wir auf die Bahn warten, setzen wir uns in eine Absteige, trinken Tschai s limonom und stellen einander vor. Viktor legt ohne Kommentar ein dickes Buch über Geheimlehren vor mir auf den Tisch, als gehöre das zur Grundausstattung eines russischen Wanderrucksacks. Ich schlage es auf und kann bloß erahnen, was darin enthalten ist; die Sprache ist für meine dürftigen Russisch-Kenntnisse eindeutig zu heavy.
Wir fahren ein wenig Richtung Irkutsk zurück und steigen zu unserer Verwirrung an genau derselben Station aus, an der wir heute morgen schon einmal waren! Wir sollen also den ganzen Weg noch einmal gehen, bloß unter etwas anderen Vorzeichen. Wir sind plötzlich wieder mehr als munter. Viktor ist, was man bei uns daheim ein Springinkerl nennt. Immer in action, immer der Schmähführer. Dabei entspannen sich zwischen ihm und mir hitzige Debatten über die Realität der Frau in Russland, Weissagungen, Drogen, Kunst, die Magie des Baikals, Gott und das Ende der Welt. Unser Dolmetsch Dörthe schwitzt.
Es stellt sich heraus, dass Viktor und Igor besessene Bergführer sind, was sie gerne auch unter Beweis stellen. Als wir vor dem Schmelzfluss zum Stehen kommen, können wir gar nicht erst bis drei zählen, schon hat der stämmige Igor seinen Rucksack geöffnet, ein Paar ein Meter lange Stiefel rausgeholt und uns huckepack über den Fluss getragen. Wir sind baff und kichern wie Dreizehnjährige. So einfach ist es also, den richtigen Weg zum See zu finden. Die von uns zuvor als kaputte Baracken wahrgenommenen Häuser tun sich jetzt als Datscha-Siedlung auf, getaucht in das glühende Orange der Abendsonne.
Spätestens jetzt scheint sich das Gefühl zu bestätigen, das mich schon den halben Tag begleitet: das hier ist gar nicht wahr! Diese Bilder und die gefinkelte Dramaturgie – der perfekte Einstieg in eine schräge Geschichte…das ist Breitleinwandkino!
Die beiden Typen beginnen nun erst so richtig ihre Hochform zu erreichen. In nullkommanix haben sie ein Haus gefunden, Holz geholt, den Ofen gereinigt und angeheizt, Tee gekocht und alle ihre Schätze ausgepackt: Brot, Fische, Eingemachtes und natürlich auch Wodka. Kurze Zeit später finden Dörthe und ich uns in einem etwa drei mal drei mal drei Meter großen Dampfkessel wieder. Es hat 90 Grad Celsius.
„Was wäre ein Abend in der Taiga ohne eine echte sibirische Banja?“ meint Viktor und nimmt eine riesige Birkenrute aus dem Scheffel mit dem brennheißen Wasser. Gute zwanzig Minuten werden wir ganzkörpergeschlagen, bis wir kreischend das Weite suchen. Draußen hat es gerade mal vier Plusgrade. Genau richtig, um durch die Nacht zu laufen, wie Gott uns schuf.
Später hüllen wir uns in Decken und setzen uns durstig und ausgehungert in die Datscha. Das Haus scheint seit langer Zeit unbewohnt, auf den Wänden hängen alte Fotos aus besseren Zeiten, die auf Holzscheiben geklebt und mit Plastikblumen verziert sind. Der Teekessel hängt über dem Ofen, welcher noch immer heftig qualmt, weil er lange nicht in Betrieb war. Der Vollmond scheint direkt vor uns auf den Tisch.
Da sitzen wir nun am „Tag des Sieges“ und trinken auf die russisch-mitteleuropäische Freundschaft: Dörthe und Doris aus dem ehemals deutschen Reich und Igor und Viktor aus der damaligen Sowjetunion. Mir kommt vor, dass mein Glas immer schon wieder gefüllt ist, bevor ich es auf dem Tisch abstellen konnte. Dabei werde ich über die heilende Wirkung von Russlands hochprozentigen Getränken aufgeklärt. Von Wodka zu Wodka werden die Geschichten aufwühlender.
Irgendwann kommen wir auch wieder beim Vaterlandskrieg2 an; und bei Gewalt, Heimat, Unterdrückung, Herrschaft, Aufklärung und Solidarität. Ich versuche, von meinen Vorfahren zu erzählen (den einen meiner Großväter erwähne ich nicht: denjenigen, der sich kurz nach dem Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland freiwillig zum Arbeitsdienst gemeldet hat und bis zu seinem Tode beteuerte, der Holocaust sei eine große Lüge und es habe ihn niemals gegeben). Da war Opa Franz, der Freunden seiner litauischen Frau aus dem Ghetto von Vilna half. Meine Großmutter Tamara selbst gab deren kleines Baby als ihre eigene Tochter aus. Die jüdische Familie konnte flüchten, baute ein Weltfirmenimperium auf und lebt heute in New York und Paris.
„Ana nascha!“ sagt Viktor, nachdem er sich Igor zugewendet hat. Dann schaut er zu Boden und beginnt zu weinen. Ich verstehe überhaupt nichts. Dann erzählt er, dass sie selbst Juden seien. All die Geschichten sind uns bloß aus Büchern bekannt oder mündlich überliefert; gleichzeitig aber spüren wir in dem Moment auf seltsam innige Weise, wie sehr wir mit ihnen verbunden sind, sechzig Jahre danach. Die Vergangenheit tut sich auf wie eine eigene Welt, die weit weg schien.
Zuerst weiß ich nicht, wie ich reagieren soll, dann aber umarmen wir einander wie automatisch, nicht wirklich begreifend, was uns eigentlich so berührt.
Jetzt bemerke ich auch das Tatoo an seiner linken Hand; da ist ein Davidstern, umringt von Runen. Als ich ihn darauf anspreche, zeigt er auch die Zeichnung einer riesigen Spinne auf der rechten Schulter: sein Bruder, wie er sagt.
Zwei Jahre habe er in Israel gewohnt, mit Frau und Kindern und habe Häuser gebaut. Es sei alles so schnell gegangen. Wie so viele hatte er seine Heimat verlassen, um bessere, einfachere Bedingungen zu finden.
Er sei hierher zurückgekommen weil er es nicht ausgehalten habe, diese Existenz, die nur aus Arbeit und Materiellem zu bestehen schien. Die Welt da drüben gehe am Leben vorbei, sei zugeschüttet von Oberflächlichkeiten und Depression. Der wirklich wahre Grund sei aber doch der Baikal, fügt er dann noch hinzu. Wie hätte er ohne ihn leben sollen?
„Trinken wir auf den schönsten See der Welt!“
Out of space bestreiten wir den restlichen Abend. Ich habe das Gefühl, wir sind stehen geblieben, während die Welt sich weiterdreht.
Am nächsten Morgen wachen wir von der Hitze auf. Es ist sagenhafte 30 Grad wärmer als am Tag davor. Wir spazieren auf den Schienen, die an den hohen Klippen entlang führen. Viktor zeigt uns den „Afrikafels“, deshalb so genannt, weil er die Form einer Landkarte von Afrika hat. Wir baden in der Sonne und genießen die atemberaubende Landschaft. Der See sieht jetzt ganz anders aus als gestern. Man sieht die Spuren der Autos, die hier gefahren sind. Auf dem Eis kommt man während der Wintermonate am schnellsten von einem Ende zum anderen. Man berichtet, dass schon einige dieser Fahrzeuge untergegangen sind. Ich stelle mir vor, wie es da unten aussieht, über 1600 m tief. All diese Pflanzen und Tiere, die es nirgends sonst auf der Welt gibt.
Als wir zum Haus zurückkommen, steht schon die eigentliche Besitzerin davor, die gerade aus der Stadt gekommen ist, um das Wochenende über das erste Gemüse der kurzen Saison anzupflanzen. Sie scheint sehr glücklich und bedankt sich überschwenglich, als wir die Miete mit einer Flasche Wodka begleichen.
Wir gehen den Weg zurück und kommen schließlich bei den Bahngleisen an. Wir haben Glück, denn es sind nur noch zehn Minuten, bis zur Abfahrt unseres Zuges nach Irkutsk.
„Kommt, laßt uns Tee trinken!“, meinen unsere Begleiter seelenruhig und bauen in Windeseile vor uns ungläubig dreinschauenden Städterinnen ein kleines Feuer, in das sie kunstvoll einen kleinen Topf mit Baikalwasser hängen. Der Tee ist stark und süß.
Als wir in der Bahn sitzen, merke ich, dass der Filmabspann naht – der obligate Adresstausch ist leider nicht zu verhindern. Vor dem Auseinandergehen die Koordinaten des anderen auf ein Stück Papier zu kritzeln, scheint tröstlich auf die Menschen zu wirken.
Es hat etwas so hilfloses, als könne man damit etwa Raum und Zeit überlisten oder ein intensives Erlebnis halten.
Der Abschied ist herzlich. Wir haben die beiden nie wieder gesehen.